"HIDDEN GEM"
Geschrieben am 17.03.2022 2022-03-17 | Aktualisiert am 17.03.2022
"Essen ist ok aber ein Problem gibt es"
Geschrieben am 12.10.2021 2021-10-12 | Aktualisiert am 14.10.2021
"Im dritten Anlauf..."
Geschrieben am 18.09.2021 2021-09-18
"Nach wie vor kann man hier gut Essen"
Geschrieben am 14.09.2021 2021-09-14
"Unfreundliche Touristen-Falle"
Geschrieben am 09.09.2021 2021-09-09
Tatsächlich bietet Inhaber Jan-Hendrik Feldner schon seit über 10 Jahren in der Hauptstadt Thüringens spanisch-katalanische Genüsse an. Aber in seinem Castillo Catalana an der Markstraße, das alleine im Gewölbekeller 75 Plätze anbot, klaffte doch eine zunehmende Lücke zwischen den Erwartungen Mallorca-affiner Gruppen und dem kulinarischen Selbstverständnis. Zumal beim immer noch jungen Küchenchef Sebastian Ernst, der auch schon seit 2013 im Haus ist und - das kann man sicher sagen - Ambitionen hat.
So wurde 2019 der Cut gemacht und, nachdem sich ein schon fest geplanter Umzug an den Wenigemarkt kurzfristig zerschlagen hatte, im schmucken Altbau die 20 Plätze des ESTIMA eröffnet. Eine gesonderte kleine Tapas-Bar ganz nach dem Vorbild Barcelonas sollte schon länger dazukommen; die harten Einschränkungen für die Gastronomie verhinderten dieses immer noch verfolgte Ziel. Bis dahin wird ein Doppelkonzept am Standort gefahren: Montags und Dienstags werden von einem eigens eingestellten Koch kreierte Tapas mit kreativem Twist angeboten; von Mittwoch bis Samstag ist ganz klar fine-dining. Auch dafür steht die Entwicklung der modernen spanischen und katalanischen Küche Pate - ohne mit allzu schrägen molekularen Experimenten zu überfordern. Nach einem Besuch bei Martín Lippo, dem „Stickstoff-Papst“ wird auch im ESTIMA mit der nicht ganz harmlosen Zubereitungsart experimentiert. Aber: Heißes Öl ist auch gefährlich.
Vielleicht bedingt durch ein paar interessierte Mails vorab wartete der Chef mit seiner kleinen Crew in dem in zwei unterschiedliche Bereiche aufgeteilten Raum schon auf uns.
Hochformat
Hochformat
Zwei im Service, zwei in der Küche, dazu zwei Azubis. Das war an diesem Mittwoch eine mehr als ausreichende Besetzung, denn außer uns kam nur ein Paar ins Reich der katalanischen Hochküche. Oder vielleicht auch ein weiteres - so genau kann ich das gar nicht sagen, denn man hatte uns freundlicherweise den Chef‘s Table angeboten. Von diesem erhöhten Platz aus hatten wir nicht nur beste Sicht auf die Arbeit von Sebastian Ernst und seinem Sous Jürgen Birth,
Bitte anklicken
sondern wurden auch vom Gastgeber mit vielen interessanten Details zu den Gerichten und der spanisch-südfranzösischen Küche versorgt. Klar, dass dabei auch ein paar Tipps für den nächsten Barcelona-Urlaub abfielen.
Zum Start nippte mein Kollege an einem Cava, und ich ließ mir einen Oloroso schmecken, während wir alles auf eine Karte setzten, will heißen, die vollen sieben Gänge des einzigen Menüs (111€) orderten. Unverträglichkeiten wurden dabei en passant abgefragt. Der Einstieg ist schon ab 4 Tellern (69€) möglich, wobei der Chef schon darauf hinwies, dass die Portionen nicht zu mächtig seien. Andererseits wird im ESTIMA allerlei davor, danach und dazwischen geboten.
Vor den schon in der Karte angekündigten Amuses - hier Aperitivos gehießen - kam schon mal gleich die erste Kostprobe aus dem Trockeneis: Eine Manchegocrème mit Chorizo-Krusteln und Pinienkernen wurde zum gefrorenen Lolli, leicht mürbe und im Mund schön schmelzend. Von Form und Konsistenz einem hausgemachten Vanille-Eis nicht unähnlich, aber eben eindeutig Käse. Nicht schlecht! Mich freut es immer, wenn Geschmackserfahrungen durchbrochen werden und halte es auch nicht für eine unnütze Spielerei, den natürlichen oder bekannten Zustand von Lebensmitteln zu verändern; nichts anderes passiert beim Garen in seinen üblichen Formen ja auch.
Die Parade der Appetithappen eröffneten grüne und schwarze „Oliven“ und schon die Anführungszeichen verrieten, dass hier natürlich wieder mit Erwartungshaltungen gespielt wurde. Eine dünne Hülle platzte auf, ihre schokoladige Note verriet Kakaobutter. Die dünnflüssige Füllung der grünen Fake-Früchtchen war tatsächlich aus dem Saft von Oliven gewonnen. Bei den schwarzen wechselt die Küche von Zeit zu Zeit. Mir war die aktuelle Mischung aus Portweinreduktion, Orangenschale und roter Bete etwas zu süß geraten, aber das ist Geschmacksache.
Es folgte ein knuspriges Tomatenbaiser, das von Sumach, Gewürzcouscous und Datteln in 1001 Nacht entführt wurde. Die Aromen ausgewogen und alle erkennbar.
Etwas einfacher dann die getrocknete Aprikose (mit erkennbaren Kern?), die fest, aber angenehmer Weise nicht zäh-ledrig geraten war. Mir wurde es beim langen Kauen zu eindimensional süß, was Herrn Feldner zu einem kleinen Lächeln veranlasste, denn bei meinem Fokus auf die Aromen-Entwicklung hatte ich nicht bemerkt, dass hier Mango und Kürbis (Das war auch der Aprikose Kern!) verarbeitet worden war. Nix Aprikose, nix einfach!
Von außen unscheinbar die kleine Thunfisch-Praline, aber die gar nicht hoch genug zu lobende Ware von Balfégo war mit einem Algengelee ummantelt und wurde von Yuzu und schwarzem Knoblauch so gekonnt begleitet, dass der Fisch immer präsent blieb. Großes Kino.
Eigentlich war Schluss mit Einstieg, aber Sebastian Ernst legte noch ein Kalbstatar mit exotischer Tamarinde-Kubeben-Mayo, knackigen dünnen Winterrettich-Scheiben und Petersilienpulver drauf.
Klassischer in der Herstellung, im Ergebnis sehr gelungen.
Und immer noch nicht genug des Guten, denn ratz-fatz stand die Interpretation einer Vichysoise vor uns mit à la minute sous-vide-gegartem und dann abgeflämmtem Lauch einerseits und Eis aus französischem süßem Senf andererseits. Frittierte Gemüsestreifen und im Stickstoff geeiste Tapiokaperlen knusperten angenehm, die feinen Streifen Bellota-Schinken blieben in diesem schmackigen Amuse unauffällig, das andernorts als Vorspeise durchgegangen wäre.
Nach diesem fulminanten Auftakt war erst einmal Beruhigung angesagt mit einem selbst gebackenen, tadellosen Baguette, das ohne Butter oder Dips gereicht wurde. Auf Nachfrage bekam ich selbstverständlich Öl von Arbequina-Oliven.
In der Zwischenzeit hatten wir uns um die Weine gekümmert, bzw. nur ich, denn mein Kollege hatte sich fürs Auto entschieden.
Die Auswahl im ESTIMA ist schmal - 7 Rote, 5 Weiße, 2 Rosé, dafür immerhin 3 Cavas. Nur Spanier und alle auch offen erhältlich bei moderat kalkulierten Flaschenpreisen (ich schätze Faktor 2,5) zwischen 23 und 50 Euro. Ohne viel Federlesens wurden uns verschiedene kleine Gläser zum Probieren eingeschenkt. Natürlich ist fast jede Weinrichtung vertreten, nur mir als Rotwein-Novize hat ein kräftig im Holz ausgebauter Chardonnay dann doch gefehlt. So fiel die Wahl zum Einstieg auf einen Albariño aus den Rias Baixas. Später erfolgte der Umstieg auf einen Murmuri, eine Cuvée aus Garnatxa blanca und Macabeu, ein seltener Weißer aus dem Priorat, dem Land der Roten, das auch Pfälzer schätzen. Nach dem Dessert wurde noch ein Moscat de Ribesaltes eingeschenkt, ein franko-katalanischer Süßwein.
Da wir uns ein bißchen Zeit für die Arbeit erbeten hatten, reduzierte die Küche das Tempo angenehm und stieg jetzt mit Gelbschwanzmakrele in das Menü ein, die unter ihrem japanischen Namen Hamachi in der Karte stand. Alle Variationen - Sashimi, angenehm salziges Tatar und fein geflämmtes Tataki - überzeugten geschmacklich total. Die weiteren Protagonisten Fenchel, Escabeche, Mandarine und Erdnuss loteten das Geschmacks- und Texturspektrum von sauer über würzig bis fruchtsüß, von knackig bis cremig gelungen aus. Witzig - oder kitschig - war die Erdnusscrème, die mittels Silikonform in das Aussehen des Ausgangsproduktes gebracht wurde. Interessant die deutliche Säure der Gewürzsauce, die aus einer molekularen Sphäre vorsichtig über das Gericht verteilt werden sollte, wie uns Herr Feldner empfahl. Das nenne ich hilfreichen Service.
Ein Teller wie aus der deutschen Sterneküche ein wenig zurückliegender Jahre: Viele Komponenten in verschiedenen Zubereitungen und Texturen harmonisch zusammengebracht. Mich holt das immer ab, wenn es so gut gelingt, wie hier: Viele schöne Kombinationen waren möglich, trotzdem wurde der Fisch nie zugedeckt.
Mehr auf das Produkt fokussiert der zweite Gang, für den der Begriff instagramable nicht nur wegen des schönen Tellers passt.
Bei aller Begeisterung für die Farben „verblassen“ diese doch hinter der geschmacklichen Qualität einer Obsiblue-Garnele aus einer der Zucht auf Neu-Kaledonien, die sich beim Genießen immer stärker durchsetzte. Auch handwerklich tipptopp, ich hätte sie mir sogar radikal glasig gewünscht, aber das ist nicht jedermanns Sache. Zumal die Mitspieler denen des ersten Gangs zwar ähnelten, aber doch eine Spur anzogen: fruchtig-bittere Grapefruit statt Mandarine, knackiger Kopfsalat und Estragon statt Fenchel und an Stelle von Erdnuss ein Vanille-Schaum und Speck-Krusteln, die durch einen gepufften und geräucherten Tapioka-Chip ergänzt wurden.
Vor dem Wechsel auf fleischliche Genüsse streute Sebastian Ernst einen vegetarischen Gang ein. Aber einen mit Umami: Holla, die Waldfee! Nach dieser unglaublich geschickten Andeutung ist es natürlich klar: Es ging um Waldpilze, die roh, angebraten und als dehydrierte Bröckchen, aber auch als klassisch spanischer Flan verarbeitet wurden. Allzuviel Schmackigkeit konterten ein Essig-Gel aus P.X.-Trauben, frischer junger Spinat und ein deutlich vernehmbarer Rosmarinschaum. Buchenpilz, Pfifferling, Champignon und Steinpilze waren bei diesem Waldspaziergang sicher dabei. Dass die kräftige, etwas gebundene Bouillon im Reagenzglas gereicht wurde, löst in Berlin-Mitte wohl keine Überraschung mehr aus, aber Nova Regio und Jürgen Dollase sind weit. Überhaupt kein Problem.Umami, ick liebe Dir!
Ich freute mich lieber über die gesondert servierte, typisch spanische, nämlich eher weiche Krokette mit Pilzfarce und Brunnenkresse!
Den Auftakt der Fleischgänge machte mal nicht baskische Kuh (die ja erschreckend oft aus Polen stammen und nur ihr Dasein im Schlachthof von Bilbao ausgehaucht haben soll), sondern trocken gereiftes galizisches Kalb.
Erneut ein Teller „wie gemalt“:
Das Fleisch sous-vide gegart und nachgebraten, zart und saftig und die Röstaromen tun meiner Ansicht nach Kalbfleisch gut. Der feine Geschmack wurde durch die abermals beeindruckende Parade der Begleiter nicht überdeckt: Neben dem Überraschungsgast Birne gefielen die Texturen von Kürbis, z.B. der Schaum oder die dickflüssig gefüllte Sphäre, nur kurz angeschwenkter frischer Spinat und sehr passend auch zum hellen Fleisch Piemont-Haselnuss (die es im Gegensatz zur Piemont-Kirsche wirklich gibt). Vadauvan setzte zwar etwas kräftigere Akzente, insgesamt abermals ein sehr harmonischer Gang.
Durchaus beherzter ging es beim Lammrücken zu; das Fleisch aus einer Thüringer Zucht der Nolana-Rasse, mir bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt. Mein Tischpartner war höchst interessiert, da selbst Amateur-Schafzüchter. Sehr mager und damit auch einen Tick weniger saftig als von mir geschätzt. Für kräftige Aromen sorgten Macis, Kapern (frittiert und in der Jus) und Chutney von der Piquillo-Paprika. Die Verwendung von Loomi, also schwarzer Zitrone, als Topping brachte prononciere Säurespitzen ins Spiel. Da waren die verschiedenen Zubereitungen von Süßkartoffeln nicht nur willkommener süßer Konterpart, sondern gefielen auch Texturen, nämlich frittiert, als geräuchertes Püree und Knusper. Nur meine Kamera war offenbar etwas überfordert von den vielen Produkten und rückte sie in ein unverdient schwaches Licht.
Und während wir noch genussvoll vor uns hin kombinierten, zauberte die Küche plötzlich noch
ein Töpfchen hervor, unter dessen Batatenschaum sich geschmorte Lammkeule versteckte. Hei, war das ein schmackiges Vergnügen!
Sehr schön, dass das ESTIMA-Menü auch einen Käsegang bereit hält!
In diesem Fall cremiger Ziegenfrischkäse, in den Tonkabohne eingearbeitet worden war. Davon ein Ring gebettet auf Granny Smith und einer Gel-Matte ebenfalls vom erfrischenden Apfel bedeckt, der dem Ganzen mehr fruchtige Frische einhauchte, als es die üblichen Mitspieler zum Käse sonst so tun. Sehr passend zum stets leicht säuerlichen Ziegenkäse. Mit der knackigen Scheibe schwarzer Walnuss wurde nochmals eine übliche Beilage zur Käseplatte spielerisch zitiert. Ungewöhnlicher, aber saisonal stimmig die frisch gehobelten Späne Wintertrüffel, dessen Stärke eher im Duft als im kräftigen Geschmack liegt.
So hätte sich der Reigen, der mit dem Manchego-Eis begonnen hatte, eigentlich mit Käse auch wieder schließen können. Aber da die freudlose Fastenzeit drohte, gönnte ich mir ausnahmsweise ein Dessert, das sich schon auf der Karte verführerisch las: Die sehr gute spanische Marcona Mandel in allerlei Spielarten von knackig bis zu himmlischem Toffee begleitet von Sherry- und Kaffee-Aromen und einem Safran-Eis. Auch mit Kardamom und Sternanis sollte vielleicht der maurischen Herrschaft in Al-Andalus eine Referenz erwiesen werden. Das knusprige Waffelblatt konnte dazu meine Arabeske sein. Insgesamt wunderbare Patisserie, die ganz ohne Zitrusfrüchte (oder gar Gemüse!) niemals zu süß wurde.
Die Agrumen waren dann in einem der abschließenden Pralinés mit angenehmer Säure vertreten. Zur Seite ein Kegel Giuanduja mit ein wenig Haselnusscrunch und mein persönlicher Favorit eine rhombische Form gefüllt mit einem Likör auf der Basis von Luis Felipe Brandy. Salut!
Das war die letzte der vielen außergewöhnlichen und hochwertigen Zutaten, die im Menü verarbeitet wurden und den für Erfurt recht sportlichen Menüpreis doch rechtfertigen.
Fazit:
Vor ein paar Jahren hätte sich das ESTIMA ziemlich sicher einen Michelin-Stern abgeholt und auch im aktuellen Führer finden sich viele ausgezeichnete Restaurants, deren Küchenstil - gekennzeichnet durch eine hohe Zahl von Produkten und deren Varianten pro Gang - sich kaum vom hiesigen unterscheidet. Aber die Zeit ist vorangeschritten und anderes steht in der Gunst der Tester: Produktfokussierter, weniger, klarer muss es auf dem Teller zugehen.
Ob man darüber in der Allerheiligenstraße allzu traurig ist, weiß ich gar nicht. Das Publikum und dessen Erwartungen verändern sich mit der Auszeichnung. Und auch unterhalb solcher Weihen gibt es im Jahre 32 der Einheit in den mittelalten Bundesländern immer noch Nachholbedarf an kulinarischen Highlights. Ich freue mich sehr, dass in Erfurt neben dem Clara (das seinen Stern verloren hat) eine echte Alternative für Feinschmecker entstanden und hoffe für den Betreiber, dass es nicht mehr lange ein Geheimtipp bleibt. Dem Guide Michelin scheint es ganz ähnlich zu gehen, denn ganz aktuell wird das Restaurant erstmals in der kleinen roten Feinschmecker-Bibel lobend erwähnt. ¡Viva ESTIMA!