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Vermutlich war daher auch Carsten1972 ein wenig gespannt, ob wir nachvollziehen können, dass seine liebe Frau und er nun schon seit mehreren Jahren die Tage ab Fronleichnam in der Alten Schule in Fürstenhagen verbringen und dafür eine Anreise quer durch die norddeutsche Tiefebene in Kauf nehmen.
Und die Antwort lautet: Absolut! Der Umbau der Alten Dorfschule gleich neben der Kirche in ein kleines Hotel mit Restaurant und benachbarten Seminarräumen ist wunderbar geglückt, mit Kreativität und liebevollen Details, seien es etliche Ausstattungsstücke aus dem Schulalltag der vergangenen Jahrzehnte oder die konsequente Benennung der Räume (z.B. Lehrerzimmer, Kartenraum oder Klassenzimmer). Ein wirklich schönes Refugium, das ist auch unser Urteil, obwohl wir außer unserem Zimmer und dem Wintergarten dann nichts mehr von der Alten Schule und der näheren Umgebung gesehen haben. Was zum Teil am berufsbedingt kurzen Aufenthalt lag, hauptsächlich aber daran, dass es teilweise die sprichwörtlichen Bindfäden regnete mit Gewittern, die die Autobahn buchstäblich zum Schleichweg machten.
Nun denn, irgendwie schafften wir es einigermaßen pünktlich und halbwegs trocken von der Auffahrt aus alten Feldsteinen in den Gastraum. Die Theke dient auch als Rezeption, an der uns nach ein paar Augenblicken Inhaber Daniel Schmidthaler höchstselbst entdeckte und das Einchecken erledigte.
Um die knappe Zeit optimal auszunutzen, erholten wir uns natürlich schon ein paar Minuten später in Gesellschaft von Ehepaar Carsten und etwas Schaumwein. In der ersten Runde folgten wir mit dem österreichischen Natur-Winzersekt (Sven Leiner „14/15/16“ 9€) der Empfehlung von Chefin Nicole Schmidthaler, die ein Faible für Naturweine hat. Bei der zweiten Runde schwenkten wir mit einem Crémant rosé (10€) in ruhigeres Fahrwasser und plauderten uns im etwas verwaisten Wintergarten in Stimmung. Für die Terrasse mit dem schönen Blick auf die Dorfkirche war das Wetter leider viel zu unbeständig und auch am nächsten Morgen wurde das gute, nicht nur in Coronazeiten am Tisch servierte und mit vielen regionalen Spezialitäten angereicherte Landfrühstück (für unfassbare 5€ pro Nase!) im großen Speiseraum, dem - na, klar - Klassenzimmer serviert.
Am Abend vorher hatten wir im Restaurant schon einige vergnügliche Stunden verbracht und als erstes die vielen Erinnerungsstücke an die ehemalige Nutzung amüsiert und gerührt bewundert. Wer kennt noch die kleinen, abgerundeten, braunen Ledertäschchen mit Schnappverschluss, die allen Grundschulkindern meiner frühen Jahre um den Hals baumelten? Der Service, in dem die Gastgeberin von zwei einheimischen Damen freundlich und fix unterstützt wurde, klappte trotz der vollen Hauses tadellos.
Bekanntlich soll man ja mit dem anfangen, mit dem man aufgehört hat, und so ließen wir uns zum Start erneut Sekt schmecken, mit (wie fast alles hier) selbst gemachtem Aprikosenpüree zum Hausaperitif gepimpt.
Der Zwischenstopp in Ludwigslust war bekanntlich karg ausgefallen und so freute ich mich besonders auf das von Carsten mit reichlich Vorschusslorbeeren bedachte Brot, dessen feste, sehr dunkel (zweimal?) gebackene Kruste mir genauso gefiel, wie die lockere Krume und die mit Kürbiskern-Bruch und -Öl verfeinerte Butter. Voller Zutrauen in die Rheinenser Empfehlung hatten wir für die Heimfahrt am nächsten Morgen auch ein frisches Exemplar geordert, das am Abreisetag noch ofenwarm übergeben wurde. Die Klopfprobe zauberte ein vorfreudiges Lächeln ins Gesicht; lange hat es die Ankunft nicht überlebt!
Mindestens ebenso gut schmeckte uns das Kartoffelmischbrot mit einer luftigen Kartoffel-Schnittlauch-Crème, von dem ich sogar nachbestellte. Wie immer unter Protest gewisser anderer Personen am Tisch, die dann aber doch gern davon naschten...
Die Speiseauswahl ging schnell vonstatten. In der Alten Schule wird nur ein Überraschungs-Menü serviert, hier natürlich die „Schulspeisung“. Allein die Anzahl der Gänge ist in Grenzen bestimmbar. Die Damen hielten mit sieben kleinen Gängen (110€) Maß, Carsten und ich gingen mit deren neun (130€) bis zum Anschlag. Und im Verlauf des Abends überzeugten gerade die exklusiven „Männer-Teller“ (uns) besonders.
Zuvor hatten wir schon einige Aperos genossen, die deutlich die moderne, stark auf heimische Gemüse setzende Küchenausrichtung ankündigten:
Geröstetes Lindenblatt mit Selleriecreme, Haselnuss und fermentierten Pilzen.
Grüne Tomaten eingelegt aus dem letzten Jahr mit Senfkraut, Fetter Henne und Heu-Lardo in Koji gereift
Scharfes Spargelomelette mit Bronce-Fenchel
Karamellisierter Milchchip mit Felchen-Kaviar und Lardo
Im Amuse ging es ähnlich aufwändig in der Verarbeitung weiter:
Aufgeschlagenes Kohlrabigel aus den Blättern, Apfel-Senfkörnersalat, Zitronenmarmelade, geflämmter grüner Spargel, Tomatenschaum und Samen von der Knoblauchrauke!
Alles einerseits sehr prägnant herausgearbeitet, andererseits harmonisch kombiniert. Spannend, sehr präzise. Man konnte aufmerksam „hinterher schmecken“, aber genauso leicht „weg schnabulieren“.
Wir begannen mit einem nicht nur optischen Paukenschlag:
Gebeizte Forelle konnte sich gegen intensive Paprika-Emulsionen und Meerrettich wunderbar behaupten, frittierte Holunderblüten setzten knusprig-fruchtige Akzente. Das war ein Teller, der nicht verkopft war, sondern gleich gute Laune machte.
Der nächste Teller nahm etwas Fahrt raus und bei so vielen Gängen mag ich das durchaus. Kräftig starten, dann aber auch mal etwas Beruhigung.
Es war noch Spargelzeit und die beiden dicken Stangen waren tadellos im Geschmack wie in der Garung, aber natürlich hatten wir alle in dieser Saison schon so einige sehr gute Exemplare genossen. Interessanter daher der Hollandaise mit einem süß-sauren Twist von Molke statt Zitrone und die wunderbaren Molke-Chips. Drittes Produkt - eine der vielen Premieren für mich - war Wunderlauch, der eine leichte Schärfenote beisteuerte, die den Teller vor dem Abgleiten in reine Behaglichkeit bewahrte.
Ein erster Höhepunkt folgte mit einer unspektakulär aussehenden Abdeckung aus süßen Perlzwiebeln, knackig-frischen Radieschenscheiben mit Kräutern und einem Zitronen-Knusperpapier
unter der sich ein unfassbar gutes, trotz Struktur zartes, geschmortes (oder gar confiertes) Stück aus der Lammnuss versteckte, vor dessen feinem, leicht süß-herbem Geschmack die Mitspieler abwechselnd ihre kurzen Solopartien spielen konnten.
Natürlich gab es eine intensiv reduzierte, zum Lippenlecken süffige Sauce dazu. Wenn Fleisch, dann bitte immer so, Herr Schmidthaler!
Und wieder gelang es dem seit 2017 mit einem Michelinstern und aktuell 17 Gault Millau Punkten bedachten Österreicher, für Beruhigung in Form eines weiteren vegetarischen Tellers zu sorgen.
Die heimischen Pilze in ihrer Bouillon sorgten für angenehm kräftige Umami-Noten, die mit Brioche-Crumble überraschend süß eingefangen waren. Schnittlauch-Blüten setzten für scharfe Geschmacksspitzen, so dass auch hier keine Langeweile aufkam.
Sonnenblumenkerne waren nicht für etwas Biss zuständig, sondern schufen als Crème auch ein angenehm „molliges“ Mundgefühl.
Der nächste Teller -der zweite Fang des Tages - war der einzige, der uns an diesem Abend nicht vollständig überzeugte. Was sicher nicht an den wunderbar frischen, aromatischen Erbsen in Texturen lag, die den Klassiker Fisch mit Speck begleiteten.
Schöne Chips sehr dunkel und leicht würzig, vielleicht von der heimischen Wildsau, wollten aber einfach nicht mit dem typischen, eigentümlichen Geschmack des leider auch sehr weichen Schollenfilet harmonieren. In seiner Abschlussrunde konnte der Chef unsere Zweifel zumindest nachvollziehen und räumte ein, dass ursprünglich auch ein Schuppenbewohner aus den benachbarten Seen vorgesehen war, was aber an der ihm nicht ausreichenden Qualität des Tagesangebots scheiterte. Der Wechsel auf die Ostseescholle sei ein Versuch gewesen.
Um keinen Zweifel zu lassen: Geschmeckt haben die Komponenten für sich „natürlich“ alle, es wollte sich nur kein Mehr als die Summe der Teile einstellen.
Nach der wie bei allen Gängen stets perfekten Pause wurden wir sogleich mit dem für mich besten Gericht des Tages entschädigt. Das vermutlich confierte Fleisch der Wachtel war unfassbar zart, eben auch saftig und zum wiederholten Male exakt so genau in der Typik des Geschmacks, dass mir unwillkürlich ein bewunderndes „Oh, ist das gut!“ entfuhr. Hörte aber kein anderer (Fleischesser) am Tisch, weil alle über ihren eigenen Tellern schwärmten, erst recht, sobald die wiederum zum Reinknien geschmackstiefe, dunkle Geflügelsauce probiert wurde. Hier waren der leicht gebratene Kräuterseitling und - meine nächste Premiere - Quendel, eine Thymianpflanze, perfekte, kräftige Begleiter.
Nach diesen doch schon schwereren Aromen folgte eine belebende Kleinigkeit im Napf: Texturen von der Gurke, auch als Sorbet belebten den Gaumen, Verbene sorgte für blumige, Chips von Backhendl-Haut für würzige Akzente.
Groß im Kleinen!
Mit sous-vide gegartem und nachgebratenem Rehrücken und geschmorter Keule bogen wir auf die Zielgerade.
Zu diesem Zeitpunkt bestand schon kein Zweifel mehr, dass das Fleisch aus benachbarter Jagd ebenso zum Niederknien sein würde, wie die separat gereichte Sauce. Auch die kleine Praline von der Leber freute nicht nur die Jäger in unseren Reihen. Der „grüne“ Mitspieler Kohlrabi gehört zwar nicht zu meinem Lieblingsgemüsen, aber Öl und auch die Crème aus den Blättern machten durchaus Spaß. Spannend der Brotcrumble, dessen säuerliche Note der später mitgegebenen Menükarte nach von Miso stammte. Unklar blieb mir, ob eine gemeinsame Verarbeitung von Brot und Miso-Paste dahinter steckte oder gar fermentiertes Brot nach Art der japanischen Spezialität.
Die Frage nach einem Käsewagen stellte sich im Konzept des Klassenzimmer nicht und das Dessert gab ich ohne Zögern an einen Süßen Fan weiter, obwohl ich gern etwas an der blüten- und kräutergeschmückten Meringue geknabbert hätte.
Die Kreation aus Aprikose, Waldmeister und Haselnuss wurde jedenfalls als ebenbürtiger, keinesfalls zu süßer Abschluss gewürdigt. Auch zum kleinen Rausschmeißer kann ich leider nichts mehr sagen.
Carsten und ich mussten uns schließlich dem Portwein widmen und nach drei exzellenten Fleischgängen war ich wunschlos glücklich und ein bißchen in einer anderen Welt. Was möglicherweise auch an der Weinauswahl lag, die wir zusammen mit der sehr sympathischen, auf ihrem Faible für Orange-Weine nicht (allzu sehr) bestehenden Chefin gemeinsam erkundet hatten:
An diesem Ort u. a. sozialistischer Jugenderziehung verzichteten wir im Gegensatz zur Küche auf alle heimischen Erzeugnisse und übten uns stattdessen mit zwei Österreichern und je einem Franzosen und Italiener in aktiv gelebter Freundschaft mit den vinophilen Bruderstaaten. Alle Flaschen lagen preislich (teilweise deutlich) noch im zweistelligen Bereich. Das Mineralwasser mit 5,5€ freundlich kalkuliert. Mein Favorit und Höhepunkt bei unserer speziellen Weinreise war ausnahmsweise nicht der burgundische Chardonnay (obgleich überzeugend), sondern die herausfordernde, 20 Jahre gereifte Cuvée aus dem Collio, meiner italienischen Lieblings(Wein-)Region. Das mag allerdings nicht jede/r am Tisch so gesehen haben.
Fazit?
Das ist die Gegenwart und wohl noch mehr die Zukunft der breiten deutschen Spitzenküche.
Kluge Reduzierung auf weniger, fast ausschließlich regionale Produkte, die aber mit ihrem Geschmack im Mittelpunkt stehen. Kombinationen, die funktionieren, nicht überfordern, aber das Gegenteil von simpel sind. Besonders beeindruckend der vielfältige Einsatz von Kräutern, den ich hier mangels Fachkenntnissen gar nicht genügend würdigen konnte! Seit dem Vieux Sinzig durfte ich nicht mehr so vielen, subtilen Nuancen hinter her schmecken! Und am Allerbesten: Das Ganze ohne ein schwurbeliges, mindestens die westliche Gesellschaft, wenn nicht gar den Planeten verbesserndes KONZEPT. Hier dagegen darf man Gast sein, Wünsche haben und sich einfach Wohlfühlen! Danke Ehepaar Schmidtahler und natürlich Dank an Carsten, dass er das wunderbar aufgegangene Experiment mit dem grumpy old Borgfelder gewagt hat!